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Erfahrungsberichte zur Organentnahme

Erfahrungsbericht einer Pflegekraft.


Erlebnis meiner ersten Multiorganexplantation (Multiorganentnahme), 2000

Als Vorwort: In dieser Art Bericht oder Beschreibung, geht es ausschließlich um meine Empfindungen und Gedanken. Es ist nicht meine Absicht, Personen anzugreifen, sie bloßzustellen oder gar anzuprangern. Vielmehr möchte ich erreichen, meine Nachdenklichkeit über manche Prozesse und Verhaltensweisen, aus welchen Gründen sie auch immer vollzogen werden, an andere weiterzugeben. Mein Infragestellen soll einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert werden, die versteht, dass es letztlich auch um eine Aufarbeitung des Erfahrenen geht. Das ist nur im subjektiven Rahmen möglich und soll diesen auch gar nicht sprengen. Es ist auch nicht meine Absicht, den Leser demagogisch in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ich selbst bin im Augenblick keine erklärte Gegenerin, aber auch keine überzeugte Befürworterin der Organtransplantation.

Es war in einem Nachtdienst. Explantationen werden häufig im Nachtdienst vorgenommen, wenn sie keinen Saal "wegnehmen" im Tagesprogramm.

Ich springe die Treppen nach oben, immer zwei nehmend, in unseren Operationsbereich, und freue mich auf den Dienst mit einer meiner Lieblingskolleginnen. Christina und ich, wir sind immer ein gutes Team. Ich bin noch eine junge Kollegin, seit knapp zwei Jahren im OP, ein dreivierteltes davon in der Abdominal - und Thoraxchirurgie.

Den Flur entlang der OP - Säle zum Stationszimmer gehend sehe ich durch die Milchglasscheiben, dass im Schleusenbereich des OP´s mehrere Personen tätig sind. Ich registriere in unserem Notfallsaal Licht und höre am Instrumentenklappern, dass ein steriler Tisch gedeckt wird - es wird augenscheinlich ein Patient zur Behandlung aufgenommen in den OP - Bereich. Nachdem ich meine Tasche im Stationszimmer abgelegt habe, will ich auch gleich in den Schleusenbereich gehen und mitarbeiten, ich bin ein bisschen zu früh da, aber da öffnet sich schon die Tür, so dass die Worte "OP - Bereich! Eintritt verboten!!" nicht mehr in der Spiegelschrift stehen. Hanna*, die Kollegin, die ich nun ablösen sollte, fährt mit der OP - Liege eine intubierte Patientin in den Saal. Ihre Augen sehen mich gestresst an als sie an mir vorbeifährt, wir grüßen uns mit dem Blick während ich, kurz und knapp, nicht ungewöhnlich im OP, frage: "Was hat sie? Welche Operation machen wir?" Meine Anspannung steigt mit jedem Buchstaben, den ich von mir gebe, ich rechne angesichts der Patientin mit einer lebensgefährlichen Verletzung, rechne mit "Messerstich" oder "Milzriß", aber sie sagt "Ausräumung". Ihr Blick löst sich noch während des Wortes von meinen Augen.

Ich verstehe sie nicht, folge ihr in den Saal, bin jetzt konzentriert und innerlich bei der Sache. Im Saal herrscht Hektik, auch häufig im OP. Bevor eine Operation beginnt, müssen so viele Dinge gleichzeitig geschehen, im Notfall noch zügiger als sonst. Aber die Atmosphäre ist irgendwie komisch, es ist eine ruhige Hektik, gedämpft, wenig Gespräch.

Meine Kollegin Susanne* steht als Instrumentierende bereit, ihre Arbeit zu tun. Sie hat Unmengen von Instrumenten vorbereitet, viel mehr, als ich je bisher gesehen habe, was soll das, warum braucht sie so viele?

Sie sagt, sie bleibt, Christiane hat so etwas noch nicht instrumentiert, und ich ja auch nicht, und sie hat Rufdienst und bleibt jetzt erst einmal noch, bis die anstrengenste Phase vorbei ist, bei der zwei Springer von Nöten sind. "WAS Sigrid, können wir zu zweit nur schwer bewältigen?"

"Die Explantation."

Dünne Luft um mich, Aufregung, mein Herz schlägt schnell, ich habe das noch nie mitgemacht, mutiges, imaginäres Straffen der Brust - wir werden das schon meistern.

Christiana kommt schimpfend in den Saal. "Oh Gott, oh Gott, muss das denn sein? Warum hier und nicht in der nächsten Uniklinik? So ein Mist!" Die Tote war nicht mehr transportfähig, der Kreislauf nicht stabil genug, um transportiert zu werden. Aus Gründen der Kollegialität stellt unsere Klinik ihre OP - Kapazität zur Verfügung.

Die Patientin war 39 Jahre alt und erstickte im status athmaticus. Als sehr kranke Asthmatikerin wusste sie, dass sie sehr früh auf diese Art sterben würde. Sie hatte mit ihrer Tochter die Dinge für die Zeit nach ihrem Tod geregelt, hatte schon des längeren den Organspendeausweis bei sich, ihre Tochter wusste das, so dass die Freigabe als Spenderin kein Problem war. Der Hirntod war vor wenigen Stunden festgestellt worden.

Wir sind nun zu dritt als Springer und kommen kaum nach. Drei Kochsalzschüsseln, die Sternumsäge und den dazugehörigen Motor, mehr Sauger, als sie normalerweise im OP stehen, bereitstellen, zwei HF - Geräte holen und je eines auf rechter und linker Seite der Patientin positionieren. Die Chirurgen unserer Abteilung sind inzwischen hinzugekommen und beginnen mit der Operation. Der Situs wird eröffnet. Sauger wechseln, den Operateuren das Licht einstellen, Bauchtücher nachreichen, Sternumsäge an den Motor schließen, noch einmal ein Sieb öffnen, es gibt gut zu tun.

"Ja, alles Klar. Rufen Sie mich umgehend noch einmal an, o.k.? Es ist ganz wichtig, die Operation beginnt, wir haben ja kaum mehr Zeit, das wäre doch wirklich schade, nicht wahr?" Ein mir Fremder kommt selbstverständlich in den Saal. Hohe Stimme, laut, nicht in den Saal passend, kühle, blaue Augen hinter einer rahmenlosen, scharf geschnittenen Brille, schlank, drahtig, hochgewachsen und hohe Stirn, unter der Haube blitzen blonde Haare hervor. "Hallo, Grüß Gott alle miteinander, das ist ja ganz prima, dass das klappt, toll, dass sie alle mitmachen!" Zu unseren Ärzten gewandt spricht er immer noch sehr gut vernehmbar weiter. "Also, das Team aus Erlangen ist schon unterwegs, sie nehmen die rechte Niere, den Pancreas und die Leber mit! Aber das Herz, das Herz! Wir warten noch..." Das Handy klingelt, unüberhörbar, im Krankenhaus sind Handys verboten und dann noch so laut! Im Übrigen herrscht gerade im OP eigentlich Ruhe, schon allein wegen der Hygiene sollten Gespräche gering gehalten werden. Sein Verhalten deplaziert ihn.

"Entschuldigung, Entschuldigung!!" Unter Kopfnicken und mit viel Gebärde geht er in den OP - Nebenraum, in dem der Sterilisator eingebaut ist, und telefoniert bestens hörbar, lässig auf der metallenen Arbeitsfläche sitzend, die wir normalerweise nutzen, Container abzustellen, Instrumente zu packen o.ä. Ich spreche flüsternd mit Hanna, die auch immer noch da ist, obgleich sie schon zu Hause sein könnte. "Könntest Du mir einmal sagen, wer DAS ist?" "Das? Das ist der Organisator von Organtransplant. Er wird eingeschaltet, sobald ein Patient als Explantationsopfer in Frage kommt! Nun organisiert er," flüstert sie zu mir zurück.

Der Patientin wurde der Körper geöffnet. Die Sternumsäge hat das gesamte Brustbein in zwei Teile durchtrennt, der Bauch wurde median eröffnet und nun halten ungewöhnlicherweise zwei Thoraxsperrer den gesamten Oberkörper der Patientin offen (der Bauch wird normalerweise von einem Bauchdeckenhalter, bestehend aus einem Ring mit Hacken offen gehalten und es handelt sich hier um eine Behelfskonstruktion) - vom Manubrium bis hin zur Symphyse geht der Schnitt. Ich habe ständig das Bild der aufgeschnittenen Schweineleiber in einem Schlachthof vor meinem inneren Auge, es sieht dem hier so verdammt ähnlich!

"Oh, das ist super! Ich habe gerade von Regensburg das Ja bekommen. Sie holen das Herz und die linke Niere! Das wäre ja nun wirklich schade gewesen...Alles klar?" Die Augen des Transplantationsbeauftragten sehen mich lächelnd - offen an und ich bin froh, dass er den Mundschutz tragen muss, denn ich vermute dahinter ein aufdringliches Grinsen, das sicherlich eigentlich ein Lächeln sein soll und nicht ganz richtig einstudiert wurde. Aufdringliches Pseudointeresse an mir, was soll das hier?

"Ich bin übrigens Schwester Simone, Grüß Gott." Er bleibt namenlos und beginnt anstelle der ordnungsgemäßen Antwort mit einem Gespräch - er will herausfinden, welche Meinung ich zum Thema Organtransplantation habe und tastet sich an mich heran.

Ich bin nicht so leicht zu überzeugen von dem Sinn der Transplantationen. Während der Ausbildung habe ich mehrere Patienten erlebt, die entweder große Probleme nach der Implantation eines Organs hatten, die die Organe sehr schnell verloren hatten oder die schon die zweite und dritte Niere implantiert bekommen hatten und entsprechend zermürbt in ihren Betten saßen. Es war nie so richtig erquicklich. Eindrücklich erinnere ich mich an den jungen Manager auf der thailändischen Insel, der uns erzählte, er sei müde, immer auf das Abstoßen der Organe zu warten, diese dritte Fremdniere sollte auch seine Letzte sein, weil er dieses Warten nicht mehr aushalten konnte.

Von seinen fanatischen Missionsversuchen, überzeugter Transplantationsfan zu werden, werde ich erlöst durch die gleichzeitige Ankunft seines Assistenten und des Ärzteteams aus Erlangen. Im Übrigen habe ich auch genug anderes zu tun, besseres, als die Langeweile eines Wichtigtuers zu vertreiben.

Die Ärzte stellen sich nicht vor. Hallo, hallo in den Raum gerufen, das war es. Ich frage freundlich nach der Handschuhgröße für die sterilen Handschuhe, bekomme eine unfreundliche Antwort, merke zunehmend, dass ich erschreckt und auch genervt bin. Was ist das hier eigentlich für ein Zirkus der Arroganz? Und welche Rolle habe ich hier?

Die Freipräparation der Organe geht voran. Wir haben das Landen des Hubschraubers auf dem Klinikgelände gehört und schon bald kommt das Herzchirurgenteam aus Regensburg auch noch hinzu. Es ist ganz schön viel los in diesem zunehmend beengenden Raum des OP - Saales. Ich rechne nicht mit einem freundlichen "Grüß Gott, ich bin Herr Doktor Soundso!" - und werde auch nicht enttäuscht. Die Stimmung ist kühl als die coolen, routinierten Explantationsteams zusammen operieren. Von unseren Chirurgen ist keiner mehr da, sie wurden nicht mehr gebraucht und es ist ja auch nicht genug Platz an der Hirntoten, nicht wahr?

Der Organisatorenassistent, dessen Namen ich schon bald vergessen habe, beginnt kurz nach seiner Ankunft, Spüllösungen in das Abdomen der Patientin zu infundieren über die großen Gefäße.

Ich frage nach, wozu sie dienen und erhalte die Antwort, dass es sich um Lösungen handelt, die die Organe haltbar machen für wenige Stunden. Sie werden auch darin transportiert. Die Organe sind unterschiedlich lang haltbar. Deshalb werden die Patienten, die die Organe halten, inzwischen schon in die Kliniken einberufen, damit sofort die Implantation beginnen kann. Ein Liter einer solchen Infusion kostet ca. 1000,- DM, er spült den Bauch der Patientin mit 13 Litern. Das Ganze muss natürlich geschehen, so lange das Herz noch im Körper und der Kreislauf intakt ist. Sonst werden die Organe nicht durchgespült.

Christina will den vom Ausleger herunterfallenden Arm der Patientin wieder ordentlich lagern, als sie einer der Regensburger anblafft: "Was soll das, hm? Sie ist doch schon tot! Hey, die lagert einer Toten den Arm!" Lachen. Blöde Witz folgen en masse.

Wir blicken uns an. Unverständnis und Kopfschütteln, ihrerseits die Geste mit der bewegten Hand vor dem Gesicht, die andeutet, dass diese Menschen nicht ganz normal sein können. Ich spüre, wie ich mich innerlich zurückziehe, Nischen in mir suche, um dort meine Verletztheit und Traurigkeit für ein andermal, wenn ich dafür Zeit habe, abzulegen.

Mir fehlt der Ausdruck von Dankbarkeit gegenüber der Patientin, des Respektes gegenüber ihrer Entscheidung, das Deutlichmachen der Erkenntnis, dass hier etwas geschieht, das auf keinen Fall als selbstverständlich genommen werden darf, das letzte Geschenk eines Menschen, der jetzt schon tot ist, aus der Motivation, anderen zu helfen. Nichts davon ist zu spüren. Den Chirurgen wird in der Öffentlichkeit gerne zugestanden, dass sie sich innere Distanz schaffen müssen zu dem, was sie tun, aber ist jegliche Respektlosigkeit, jeglicher Verlust eines ethisch akzeptablen Benehmens mit dieser Motivation gerechtfertigt?

Der Organisator startet zum wiederholten Missionsversuch, Christina und ich sind die Auserwählten, aber wir lassen uns auf kein Gespräch ein. Ich fliehe zu unserem Anästhesisten, mit dem ich mich gut verstehe und der, genauso wie ich, zunehmend hilflos aushaltend müssend seinen Dienst versieht. Wie Hyänen stehen sie über dem Leib und wüten. Der Augenarzt hat zwischendurch mal eben die Augäpfel mitgenommen und durch Glasmurmeln ersetzt, ganz geheimnisvoll, nur der Anästhesist hatte es gesehen.

Der Assistent des Organisators hat Kühlbehälter bereitgestellt für die Organe. Allen ernstes, sie sehen aus wie die Kühlboxen, die man mitnimmt zum Badesee.

Wir haben drei oder vier Instrumentiertische aus anderen Sälen geholt und mit einem sterilen Tischbezug vorbereitet, an den Tischen werden die einzelnen Organe feinpräpariert.

"Alles klar, können wir jetzt?" Nicken rundherum. Eine Klemme, ein Faden, ein Schnitt - der Herzchirurg hält das Herz der Patientin in seinen Händen. Hält es hoch in den Raum, als ob er ein siegreicher Kämpfer sei. Die Geräusche, die sonst vom Beatmungsgerät her zu hören sind, das Piepen und regelmäßige Schnaufen, das vom Leben zeugt, Infusiomaten, die alarmieren, plötzlich alles aus.

Stille.

Der Anästhesist spricht es aus:

Die hirntote Patientin ist entgültig verstorben.

Kein Herz mehr da. Der Kreislauf existiert nicht mehr.

Ich drehe mich um, ich verliere sonst meine Fasson.

Die Kollegen der Anästhesie verlassen nun den Saal - sie werden ja nicht mehr gebraucht.

Die Herzchirurgen - ich weiß nicht mehr, ob sie und mit welcher Zeit sie das Herz feinpräpariert haben, sie verlassen jedenfalls noch lange vor den anderen den Saal. Legen das Herz, steril in der Nährlösung verpackt, in eine der Kühlboxen, nehmen die linke Niere in eine andere, auf Wiedersehen und weg sind sie.

"Hat noch jemand ein Stück Cava? Ich hätte gerne noch ein bisschen Gefäß...""Guck halt noch einmal im Bauch..." Noch ein letztes Mal Licht einstellen über dem Operationsgebiet für den Urologen, der noch verwertbare Gefäße suchen und explantieren will. Ich sehe in den leeren Torso der Toten. Es sieht aus wie im Biologieunterricht, wenn alle Plastikorgane herausgenommen sind, ich blicke von oben auf die Wirbelsäule und die Muskelzüge rechts und links davon. Ekel, die Lende eines Menschen.

Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit es noch bedurfte, schließlich standen die Chirurgen verteilt an vier Tischen im Saal und präparierten die Organe.

Christina und ich fangen an, die ersten Instrumente zu zählen und wegzuräumen. Bauchtücher werden nicht gezählt, klar, sie bleiben soundso im Bauch, um ihn auszustopfen. Instrumente müssten nachgekauft werden, das ist etwas anderes, Bauchtücher sind Einmalmaterial, das interessiert nicht. Ganz pragmatisch.

Nach und nach verlassen die Chirurgen mit ihren Köfferchen den Saal. Den letzten Urologen müssen wir zurückhalten. Susanne ist zwar müde, kann aber immer noch empört fragen: "Könnten Sie vielleicht den Bauch zunähen?" Der Urologe ist bass erstaunt und erwidert ärgerlich, in seiner Uniklinik würden das schließlich auch die OP - Schwestern machen. Am lebendigen Patienten nähen die Schwestern ganz sicher nicht zu, bei der Toten ist es egal, oder wie ist das zu verstehen? Nachdem unsere Klinik nur in Ausnahmefällen überhaupt bei einer Explantation mitarbeitet und wir tagsüber selbstverständlich nicht die Naht versehen, bequemt er sich doch noch, lieblos in großen Zügen den Thorax und den Bauch mit Sternumdrähten und sehr dicken Fäden wieder zu verschließen. Pflaster drauf und gut ist es. Man sieht so gut wie nichts von dieser Wunde, die nicht mehr heilen wird. Susanne geht wohlverdient endlich nach Hause, es ist kurz vor ein Uhr morgens.

Auf Wiedersehen zum Urologen, auf Wiedersehen zu dem Manager, - und weg sind sie.

Stille. Schweigen.

Wir stehen in einem unendlichen Chaos, Instrumente, Tische, Schüsseln - und im Spotlicht der OP - Leuchten: die Leiche.

Wir müssen dieses gruselige Durcheinander aufräumen. Allein.

So hieven wir den schweren Leichnam der Toten von der Liege wieder in das Bett zurück und fahren sie zum gekühlten Leichenkeller der Klinik. Nun geht sie den Weg jedes Verstorbenen, der im Klinikalltag verstirbt. Morgen früh wird sie abgeholt vom Bestattungsunternehmen und in wenigen Tagen wird sie beerdigt sein.

Während wir fast zwei Stunden aufräumen, tauschen wir ununterbrochen unsere Eindrücke aus, offenbaren uns unsere verletzte Mitmenschlichkeit, versuchen, emotional das Trauma der letzten Stunden zu bewältigen. Es will uns nicht recht gelingen. Immer wieder fangen wir traurig von vorne an.

Am nächsten Morgen in der Morgenbesprechung die Standartfrage unserer Stationsleitung an den Nachtdienst: "Und, was habt ihr heute Nacht gemacht?" "Wir haben eine Explantation gemacht!" Ihr Blick bringt mich zum Schweigen, die Klage, die ich anfügen will, bleibt mir auf der Zunge liegen, ich schließe den Mund. Sie will es nicht hören, keiner der Kolleginnen will es hören, fragt nach, sagt etwas, die Blicke fixieren andere Punkte im Raum.

"Alles klar, dann gute Nacht, bis morgen früh!"

Wir gehen und bleiben allein.

Heute, drei Jahre später, habe ich noch zwei weitere Explantationen erlebt, bei denen ich von Anfang an distanzierter war, die ich aber nichts desto trotz als mehr als abstoßend empfunden habe.

Im Gespräch mit Kolleginnen über dieses Thema, sei es in der Weiterbildung zur OP - Schwester, bei Kongressen oder in unsere Abteilung selbst, habe ich erfahren, dass es in anderen Kliniken ebenso abläuft, dass jeder von uns Grusel und Ekel empfindet angesichts dieser Operation, dass keiner von Ärzteteams erzählen konnte, die irgendwie ethischen Maßstäben auch nur im Mindesten entsprochen hätten. Es stellte sich sogar bei unserer Weiterbildung heraus, dass diejenigen, die bei Explantationen mitgearbeitet hatten, einen Organspendeausweis mit sich trugen, auf dem angekreuzt war, dass sie keine Organspender sind. Auch ich trage einen solchen Ausweis mit mir.

Ich habe gruselige Einzelheiten erfahren, Besenstiele, die für Knochen eingesetzt worden waren, Augäpfel, die gleich noch beim Einschleusen gegen Murmeln ersetzt wurden - und einiges mehr, immer begleitet von Berichten über Ärzte, die alles für die Pflegenden nur noch schlimmer gemacht haben. Es gibt Bücher von Intensiv- und OP - Schwestern, die im gleichen Tenor ihren Gefühlen Ausdruck geben.

Keiner von uns wurde supervisioniert, jeder blieb allein mit sich und es wird auch heute noch so gehandhabt. Wir wurden dahingehend nicht geschult und auch nicht darauf vorbereitet - müssen wir, die Helfer, wirklich durch alles einfach durch, uns ins kalte Wasser werfen lassen, im Namen des Helfens, weil es eben dazugehört? Wo sind die angeblich festen Teams, die zu solchen Operationen kommen, um sie vorzunehmen? Zählen zu den Teams nur ÄrztInnen, Pflegepersonen nicht inbegriffen?

Nicht jeder Zweck heiligt jedes Mittel.

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update: 10.01.2004    by: Roberto Rotondo